Évolution en Réduction?

Ein nicht ganz objektiver Modellvergleich ;-)


"Evolution en réduction"
, so der Untertitel zur Entwicklung des Modells 1400 aus dem Vorgängermodell 1010 (siehe "Le VéloSoleX de mon père", S.41).

Mir kommt es so vor, als sei das Prinzip "Evolution en réduction" nicht nur auf die hier gemeinte Verkleinerung der Radgröße bezogen, sondern auch übertragbar auf die Entwicklung der Qualität des VeloSoleX überhaupt!

Das schlechteste VeloSoleX, das ich je besessen habe, war mein erstes. Ich habe es mit 17 dank finanzieller Unterstützung meines Vaters bei der Darmstädter VeloSoleX-Vertretung Hinz neu gekauft.
Es war Baujahr 1973 oder 1974 und eines der ersten Fahrzeuge, die "modernisiert" mit den Komponenten des Modells 5000 ausgeliefert wurden. Ich habe das damals schon als Stilbruch empfunden, denn meine Freunde fuhren noch das VeloSoleX im klassischen Erscheinungsbild mit ULO-Lampe.

Schon bei meiner ersten Fahrt stellte sich mir die Frage, ob der Gasdrehgriff wirklich die langersehnte Errungenschaft ist - er zeigte jedenfalls keinerlei Funktion. Sicher war das nur eine Folge schlampiger Einstellung des Gaszuges, aber auch bei perfekter Einstellung führt er seinen Auftrag "Halbgas" nur recht halbherzig aus und das auch nur, so lange der Plastik-Mitnehmer nicht abgenutzt oder gebrochen ist. Was da geschieht ist jedenfalls nicht nicht zu vergleichen mit dem, was das legendäre Daumengas der 1700er bewirkt.
Diese Erfahrung hat sicher dazu beigetragen, dass ich gelernt habe, vermeintliche Verbesserungen am VeloSoleX kritisch zu betrachten - schon deshalb, weil sie mit dem Anspruch des Herstellers einhergegangen sind, über fast 2 Jahrzehnte das Preisniveau zu halten.

Mein erstes VeloSoleX von 1973/74 jedenfalls ist, aus meiner heutigen Sicht, ein klares Indiz dafür, dass die Qualität der Fahrzeuge ab dem Modell 1010, bis zum Beginn der Fabrikation durch Motobecane, 20 Jahre später, immer schlechter wurde.

Das einzige, das mir von meinem ersten VeloSoleX geblieben ist, ist dieses Foto (der langhaarige Typ bin ich - außerdem beachte man den Friesen-Nerz auf dem Gepäckträger) und die Erinnerung daran, dass ich damals schon gern ein älteres (sprich besseres) VeloSoleX gehabt hätte. (Selbst auf dieser schlechten Pocket-Aufnahme kann man den Rost am damals 2 Jahre alten Fahrzeug sehen!)

Ich möchte ich im Folgenden einen Vergleich der Modelle zwischen meinem zuletzt gekauften VeloSoleX 1010 und meinem ersten VeloSoleX 3800 anstellen.

Ich will mal beim oberflächlichen Erscheinungsbild anfangen:

Was war denn das entscheidend Neue am 3300 bzw 3800? Das kantige Profil des Hauptrahmens doch wohl nicht! Mag ja sein, dass man die Gradlinigkeit des neuen Rahmens Mitte der 1960er Jahre als modern empfunden hat. Mir ist er bisher nur durch die schlampig "pickelige" Schweißnaht am Steuerkopf aufgefallen. Die obenliegende punktgeschweißte Naht des Rahmens muss mit einer Plastikleiste von zweifelhafter Zierwirkung abgedeckt werden, damit man nicht sieht, wie nachlässig sie ausgeführt ist bzw. einem der Rost nicht gleich ins Auge sticht. Die Zierleiste hat eine nicht zu bändigende Tendenz, der angedeuteten Rundung des Rahmens am oberen Ende nun gerade nicht folgen zu wollen und lieber so weit runter zu rutschen, dass sie nur den geradlinigen Teil der Naht abdecken muss.
Und dann der Rost! Irgendwann zu Beginn der 1970er Jahre wurde eine neue Art von schwarzem Lack verwendet. An den meisten Exemplaren des Velosolex 3800 konnte man schon nach wenigen Jahren den unterrosteten Lack großflächig vom ungrundierten Blech abpellen. Gefördert wurde dieses Phänomen sicher noch durch die viel scharfkantigeren Steben des gesamten Hinterbaus. Grundiert wurde erst ab der Fabrikation durch Motobecane.

Im Unterschied dazu ist der Rundrohr-Rahmen noch mit Nitrolack(?) lackiert, der erheblich besser auf ungrundiertem Blech hielt. Subjektiv nehme ich ein "komfortableres" Fahrgefühl wahr, das wohl in der geschwungenen Form des Rahmenrohrs begründet ist, denn auch bei den späteren Modellen, die schon 19" Räder haben (1400 bis 2200), ist das spürbar.
Die Schutzbleche waren zwar schmaler, aber dadurch scheinbar auch stabiler. Ich habe jedenfalls noch kein Schutzblech der Modelle vor dem 3800er gesehen, das unterhalb der Auspuffbefestigung abgebrochen, bzw. an der Aussparung für das Kabel in Höhe des Rücklichts eingerissen ist.

Der große Sattel, unterstützt durch eine einzige große Spiralfeder - war der wirklich die große Innovation?
Rein optisch, meiner Ansicht nach, nicht. Er machte aus dem Fahrrad mit Hilfsmotor ein Möchte-gern-Moped. Und die Spiralfeder? Anfangs war sie an beiden Haltepunkten unter entsprechende Aussparungen im Blech gesteckt. Ich habe letztens versucht eine solche gebrochene Feder zu ersetzen (warum bricht die eigentlich?), was nur mit roher Gewalt möglich ist. Dann das genietete Gelenk des Sattelgestells! Wer es nicht konsequent fettet, hat das Problem, dass es erst quietscht und bald danach verschlissen ist. Apropos verschlissen: Die Satteldecke ist wirklich haltbarer als die Kunstlederbezüge der Vorgängermodelle 1010 bis 1700 - wenn man davon absieht, dass die angegossenen Haltenippel zwar ein Demontieren zulassen, aber spätestens das Wiederaufziehen der Satteldecke nicht überleben.

Wer weiß eigentlich, dass sich auch der neue Sattel höhenverstellen läßt? Immerhin in drei Stufen und leider nur, wenn man dazu einen Teil der tragenden Konstruktion des Rahmens zerlegen muss. Es lohnt sich auch nicht wirklich, das zu wissen, denn in jeder anderen Stellung, als der serienmäßig eingestellten, wirkt das VeloSoleX irgendwie unförmig. Außerdem hinterlässt die werksmäßige Montage Lackschäden an der Sattelstütze, mit denen man nicht unbedingt gern nach einem Höherstellen des Sattels herumfährt.

Der Sattel der Modelle bis zum 1700 war optisch eine ästhetische Augenweide (nehmt mir die Überschwänglichkeit nicht übel - gut erhaltene Exemplare sind selten, so dass man wirklich ins Schwärmen kommen kann). Leider neigt das Gummi-Kork-Gemisch unterm Kunstleder zum Bröckeln (was es nach 40 Jahren natürlich auch darf). Die Sättel der noch älteren Modelle 45cc und 330 sind erstaunlicherweise langlebiger (was ja auch wieder meine anfangs formulierte These stützt) und von der Bequemlichkeit sind sie durchaus mit dem neuen Plastiksattel vergleichbar. Mit der klassischen Sattelstütze und einer Sattelklemme wie beim Fahrrad, lässt sich die Sitzposition individuell anpassen.

Nun zur Trommelbremse:
Diese war sicher lange überfällig, besonders mit dem Blick auf die Konkurrenz. Leider taugte sie nichts - jedenfalls bis zum Wechsel der Fabrikation zu Motobecane. Der bis dahin seltsam geformte Hebel des Exzenters schien immer zu kurz, die Kraftübertragung viel zu schwergängig. Richtig zentrieren ließen sich die Innereien im Verhältnis zur Trommel nie. Irgendwie bremste sie immer unrund. Und dann die Feineinstellung: ein interessanter Spritzgusshebel unter dem Rahmenabdeck-Plastikteil hinter dem Tretlager. Eigentlich eine geniale Konstruktion, deren Funktion aber nicht so einfach nachzuvollziehen ist (mal ehrlich: wer ist darüber nicht schon ins Grübeln gekommen?). Später gab's dann einen Zugeinsteller Marke Fahrrad, der sich aber auch nur mit der Zange drehen ließ.

Das soll hier kein Plädoyer für die Felgenbremse an beiden Rädern werden - dafür sind die Schwächen, besonders bei Nässe nur zu gut bekannt. Aber die Felgenbremsen an den Vorgängermodellen des 3300 sind besser als ihr Ruf. Besonders an älteren Modellen (bis zum 1010) ist die Bremsmechanik erheblich stabiler ausgelegt) und neigt nicht zum Rosten, Verbiegen und Klappern, wie die spätere Felgenbremse (ab 1400). Sie ist dadurch auch leichtgängiger und lässt sich besser zentrieren. Die Beläge können außerdem gekippt werden.
Ich halte die späteren Veränderungen an der Felgenbremse für ein weiteres Indiz dafür, dass bei der Fabrikation, aus Gründen der Kostenreduzierung, auf minderwertigeres Material ausgewichen wurde.


Eine weitere Neuerung, die mit dem Modell 3800 kam, war der "unkaputtbare" Kunststofftank.

War der Plastiktank aber wirklich die entscheidende Innovation, oder wird uns hier nur eine Sparmaßnahme bei der Produktion als lange erwartete Verbesserung verkauft?

Der neue Kunststofftank hat ein größeres Fassungsvermögen, nur leider lässt sich der Tank nicht mehr als 3/4 voll füllen, sonst sabbert der Sprit aus dem nicht ganz geschlossenen Dichtring (Belüftung) des Deckels. Bei der späteren "verbesserten" Deckelversion "pumpt" der vibrierende Plastiktank seinen Inhalt aus dem Belüftungsloch des Deckels. Auch keine Verbesserung stellt das Gewinde des Deckels bzw. des Tanks dar. Wer schon mal mit Gewalt den Tank aufgewürgt hat oder vergeblich versucht hat, den Deckel ins Gewinde einzupassen, weiß wovon ich spreche. Das Kunststoff-Material scheint zu "arbeiten" oder zu altersbedingter Verformung zu neigen, so dass sich der Deckel elend verklemmen kann.
Aber auch die rundum laufende Naht des Tanks kann undicht werden. Dann ist ein neuer fällig, wenn man an der Herausforderung scheitert, diese wieder ordentlich und dauerhaft abzudichten.
Eine entscheidende Veränderung, aber auch die entscheidende Schwachstelle des Plastiktanks ist sicherlich die Verbindung zur Benzinleitung. Einmal, aus Ärger darüber, dass hier immer Sprit raussabbert, die Mutter am Anschuss der Leitung überdreht - das Gewinde im Plastiktank ist dahin.
Den Tank gab (man beachte die Vergangenheitsform!) es auch in schönem weiß und grau, die sich aber leider als noch empfindlicher gegen UV-Strahlung erwiesen, als es der schwarze ist.

Was war denn so schlecht am Blechtank der Vorgängermodelle?

Dass er weniger Sprit fasst, stimmt zumindest bei den Modellen 1700 bis 3300 nur theoretisch. Praktisch lassen sich die Blechtanks höher befüllen und haben neben gut funktionierender Belüftung im Deckel auch eine geniale Vorrichtung in der Tanköffnung, die hochspritzendes Benzin größtenteils zurückhält. Auf dem Foto sieht man die "Messingschürze" in der Tanköffnung. Der Deckel hat ein feines Schraubgewinde und dient gleichzeitig als Messbecher für die richtige Ölmenge.

Zugegeben, Dellen im Blechtank sehen nicht so gut aus und lassen sich an manchen Stellen nur schwer ausbeulen, aber wenn wirklich mal eine Undichtigkeit am Blechtank auftritt, lässt sich diese ohne weiteres mit dem Lötkolben reparieren. Die Leitungsverbindung zwischen dem Tank, an den sie angelötet ist, und der Benzinpumpe ist kurz und direkt. Die Benzinleitung setzt sich im Tank fort bis an dessen tiefste Stelle, wo sie die durch die Ablass-Schraube zugänglich ist. Dort sitzt auf der Benzinleitung ein einfaches feinmaschiges Drahtnetz als Benzinfilter, das durch die Ablass-Schraube herausgezogen werden kann. Diese Ablass-Schraube lernt man zu schätzen, wenn man den Solexmotor bei längerer Standzeit trockenlegen möchte, denn das Benzin lässt sich restlos entfernen, ohne die ganze Mühle umkippen zu müssen.
Zugegeben, Blech kann rosten (Messingtanks, wie man die älteren oft bezeichnet, sind mir nicht bekannt - lässt sich mit einem Magneten überprüfen). Beim Neulackieren eines ausgebeulten Tanks ist mir aufgefallen, dass er großflächig verzinkt und stellenweise verzinnt war, so dass Rost sich als kein großes Problem herausstellte.

Zusammenfassend möchte ich behaupten, dass mit der Einführung des Plastiktanks nichts weiter als eine Einsparung hochwertiger und sicher gutbezahlter Spenglerarbeit im Produktionsprozess beabsichtigt war. Es wurde aus ökonomischen Gründen ein Qualitätsverlust in Kauf genommen und dem Kunden dann als innovative Entwicklung verkauft.


Der Gasdrehgriff - Wieder ein Schritt hin zum Möchte-gern-Moped!
Nein, der war natürlich auch längst überfällig...
... aber nur in dem Sinne, dass er der Unzulänglichkeit des gekoppelten Systems von Bremsen und Gaswegnehmen ein Ende machte.
Dieses System war immerhin die konsequente Umsetzung des Anspruchs "une seule commande!" - vielleicht aber doch etwas zu konsequent: Versucht man mit einem frühen VeloSoleX 3800 beim Rechtsabbiegen vorschriftsgemäß brav ein Handzeichen zu geben, dann merkt man, was ich meine.

Der Gasdrehgriff, der das gekoppelte Bremse-Gas-System in den 70er Jahren ablöste, taugte aber auch nicht viel. Darüber habe ich ganz oben bereits berichtet.

Dagegen war der Daumengas-Hebel der Vorgängermodelle, und gekoppelt mit der Dekompression, der reinste Luxus. Mit seiner Arretiervorrichtung konnte man den Gashebel exakt auf eine gewählte Geschwindigkeit begrenzen. Wenn man wieder schneller fahren wollte, wurde der Begrenzerhebel automatisch mitgenommen. Drückte man ihn ganz durch, betätigte er die Dekompression.
Mit der 2.Version des Modells 2200 wurden Veränderungen am Vergaser vorgenommen, die mit der neuen Art der Gasbetätigung zusammenhingen. Unter anderem wurde das Drosselküken umgestaltet, so dass der Vergaser jetzt Nebenluft in "Halbgas-Stellung" ziehen kann. Leider gibt es dafür aber keinen Ansauggeräusch-Dämpfer, so dass sich das Halbgas-Fahren zwar mit einem knatternden Geräusch, aber nur unerheblich durch verminderte Geschwindigkeit bemerkbar macht. Der Sinn dieser Veränderung war mir als Nicht-Techniker nie recht nachvollziehbar. Das geht wohl auch anderen so, denn im französischen Forum wird empfohlen, die "Salzstreuer-Öffnung" vorn am Vergaser einfach zuzukleben. In Verbindung mit einem Gashebel, der das Gas wirklich zurücknimmt, ergibt das ein fast authentisches 1700er-Feeling.


Mit dem neuen Motor des VeloSoleX 3800 verschwand auch die alte Benzinpumpe.

Sollte die neue Ausführung ohne Benzinfilter etwa signalisieren, dass sie jetzt wartungsfrei ist, so ist das in einer Hinsicht richtig:
Man kann tatsächlich ohne weiteres keine ordentlichen Wartungsarbeiten daran vornehmen, denn sie lässt sich nicht mehr öffnen.

Überflüssig wurde der Benzinfilter in der Benzinpumpe dadurch (und damit die Produktion kostengünstiger), dass der Filter im Tank durch den neuen Filter im Vergaser ergänzt wurde, der der Benzindüse direkt vorgeschaltet ist. Wartungsfrei ist die Benzinpumpe dadurch aber leider nicht. Was bei der Neuentwicklung vernachlässigt wurde, ist die Tatsache, dass es eben nicht nur feste Verunreinigungen im Benzin gibt, die es rauszufiltern gilt. Besonders bei längeren Standzeiten lagern sich harzige Rückstände aus dem Benzin-Öl-Gemisch im gesamten System der Benzinversorgung an. Im Tank und in der Benzinleitung sind diese schon schwierig genug zu entfernen. Aus der nicht mehr zu öffnenden Benzinpumpe bekommt man sie gar nicht mehr raus.

Wer hat sich nicht schon gefragt, was sich eigentlich hinter diesem, mit blasiger Dichtmasse eingesetzten Deckel der Benzinpumpe verbirgt? (besonders dann, wenn sie wieder mal nicht funktionierte)
Nichts - d.h. ein Hohlraum (mit den leider unvermeidlichen Harzablagerungen), durch den das Benzin gesaugt wird. Die Hoffnung, dort das legendäre untere Kügelchen der Pumpmechanismus anzutreffen, wird enttäuscht.
Man merkt, ich habe so eine verklebte Pumpe schon mal offen gehabt und sie auch mit 2-Komponenten-Kleber wieder dicht verschlossen.

Bei der Benzinpumpe der Vorgängermodelle (bis zum Motor des 2200) ist solches Gemurkse nicht notwendig:

Eine Schraube mit Kupferdichtring sichert den Deckel vor dem Hohlraum, in dem sich ein doppelt wirksamer Filtereinsatz befindet. Dieser dient gleichzeitig als Dichtung für den Deckel. Die Einzelteile lassen sich wunderbar reinigen und mit einem Drahthäkchen kommt man von unten an das untere Kügelchen des Pumpmechanismus ran, wenn sie verklebt sein sollte.


Gibt es denn wirklich nichts, was bei der Entwicklung hin zum Modell 3800 besser wurde, im Vergleich zu den Vorgängermodellen?
Was ist denn zum Beispiel mit der Kupplung ab dem Modell 1700?

Die automatische Kupplung -
eine wirklich einschneidende Veränderung im Antriebskonzept des VeloSoleX!

Diese neue Entwicklung kann nach technischen, aber auch nach weltanschaulichen Gesichtspunkten beurteilt werden:

"L'embrayage, c'était un erreur!"
so die Aussage eines überzeugten VeloSolex-330-Fahrers, den ich in meinem Provence-Urlaub kennen lernte.

Eine Fehlentwicklung war die automatische Kupplung sicher nicht. Die Fliehkraftkupplung der ersten Generation im Motor des Modells 1700 war allerdings wohl so störungsanfällig, dass sie schon bald durch eine überarbeitete Version abgelöst wurde. Ich weiß nicht genau was konkret die technische Schwachstelle an der ersten Kupplung war. Ich vermute, dass es sich um das Phänomen handelt, das mir bei einem alten 1700er auch schon untergekommen ist:
Die Kupplung will beim Anschieben einfach nicht mehr recht greifen, so dass die Rolle keinen Kraftschluss zur Kurbelwelle herstellen kann (keine lockere Kupplungsmutter!). Dieses Problem habe ich damit in den Griff gekriegt, dass ich den Motor am Polrad angeworfen habe und die Kupplung dann eine Weile schleifen ließ. Danach funktionierte auch das Starten des Motors durch Anschieben wieder.
Wenn sie denn funktioniert, macht mir die Kupplung des VeloSoleX 1700 aber einen besseren Eindruck als die der nachfolgenden Modelle.
Dadurch, dass man am 1700er, mit seinem alten Vergaser, den Motor wirklich auf Standgastouren bekommt, gibt die Fliehkraftkupplung merklich den Antrieb frei. Ich weiß nicht ob das konstruktionsbedingt ist, oder an der niedrigen Drehzahl im ploppernden Standgas liegt. Beim 3800 jedenfalls kann man kaum von einem Auskuppeln im Stand sprechen, da die Beläge immer schleifen.

Der Motor mit Kupplung ist, im Vergleich zu seinem Vorgänger ohne Kupplung, um ganze 5cm breiter. Das notwendig gewordene Gebläse, die Kupplung selbst und der größere Tank sind für diesen Zuwachs verantwortlich.

Die automatische Kupplung - bestimmt keine Fehlentwicklung, aber auch nicht unbedingt notwendig... ...aber kann man denn bei der heutigen Verkehrsdichte überhaupt noch ohne Kupplung fahren?
Mit dem Ausrückhebel (bei geringfügiger Manipulation des Deko-ventilspiels) und in Standgasstellung erzielt man bei den alten Modellen einen Kupplungseffekt, der, bei richtiger Handhabung, die automatische Kupplung eigentlich überflüssig macht.


Kein Zweifel! Der Motor des VeloSoleX 3800 leistet mehr als seine Vorgänger. Und jetzt kommt mein unvermeidliches aber... ...einige Aspekte der Entwicklung sehe ich doch kritisch:
VeloSoleX hat immer beteuert, die Begrenzung der Geschwindigkeit auf 30kmh (in Frankreich!) sei eine freiwillige Einschränkung und diene der Sicherheit. Diese Einschränkung ging allerdings immer auch auf Kosten der Durchzugskraft an Steigungen.
Um mehr Kraft am Berg zu erreichen wurde die Antriebsrolle beim VeloSoleX 3800 von 45mm Durchmesser auf 42mm verkleinert. In den 70er Jahren hatte die Antriebsrolle am deutschen Modell 3800 nur noch 38mm (eine weitere Enttäuschung für mich, zusätzlich zum veränderten Erscheinungsbild mit hohem Lenker, als ich mein erstes VeloSoleX 1974 kaufte). Damit wurde der Geschwindigkeitsbegrenzung auf 25kmh Rechnung getragen. (Warum die früheren 3800er mit 42er Antriebsrolle zugelassen waren, habe ich nie verstanden)

Die 38er Rolle in Kombination mit zu hochtourigem Standgas, schlecht trennender Kupplung, nachlässig gewartetem Ausrückmechanismus und regennassem Reifen: So wird die Antriebsrolle wirklich zur Reibrolle und fräst im Stand hässliche Querrillen ins Reifenprofil.

Die 38er Rolle neigt, meiner Erfahrung nach, zu schnellerer Abnutzung. Wegen ihres geringen Durchmessers, reibt der Reifen am Spritzschutz, der den Simmerring abdeckt, wenn das Vorderrad nicht exakt zentriert eingebaut ist (auf dem Foto links neben der Rolle zu sehen).

Mit meinem Alltags-VeloSoleX 1700 habe ich weder im Stand, noch an Steigungen jemals Probleme mit einer rutschenden Antriebsrolle bei Nässe gehabt. Meiner Ansicht nach, sind an diesem Modell die genannten technischen Komponenten einfach besser aufeinander abgestimmt - und die Geschwindigkeit ist auch nicht auf 25kmh (sondern auf 30kmh, auch in der deutschen ABE!) begrenzt.
Bei meinem VeloSoleX 1010, das ja hier zum Vergleich herhalten soll, stellt sich das Problem des Antriebschlupfs überhaupt nicht. Die 45mm-Antriebsrolle erzeugt genügend Kontaktfläche mit dem größeren Reifen (600x45B).

Mit dem Velosolex 1010 kann man an steileren Steigungen früher mit dem Mittreten beginnen (falls überhaupt notwendig), denn die Übersetzung zum Hinterrad beim Mittreten ist größer als beim 3800. So bleibt die Kiste in Schwung.
Bei ausgerücktem Motor kann das VeloSoleX 1010, nicht nur wegen seiner günstigeren Übersetzung, sondern auch auf Grund seiner ganzen Rahmenkonstruktion als richtiges Fahrrad bezeichnet werden.

Dem gegenüber ist das 3800 im Fahrradbetrieb eine Quälerei:
Ein Tretlager, das diese Bezeichnung nicht verdient, eine am Kettenschutz schleifende Kette, eine Sitzposition, die sich nur mit erheblichem Aufwand verstellen lässt und dann noch der schwerer gewordene Klotz von Motor auf dem Vorderrad...

...ok, ok, nach meinem nächsten Kapitel zu diesem Thema, hör ich auf! Da wird aber noch mal schonungslos über das Objekt unserer Leidenschaft hergezogen.


Ungefähr 1974 war's in Deutschland vorbei mit dem klassischen Erscheinungsbild des Velosolex: Am Modell 3800 wurden der hohe Lenker, das Dekosystem, der Plastikscheinwerfer und das Motorausrücksystem des Modells 5000 montiert.

Vordergründig waren diese Veränderungen dadurch notwendig geworden, dass die legendäre ULO-Lampe nicht mehr hergestellt wurde. Der Scheinwerfer im Motorabdeckteil wie in Frankreich, war keine Alternative, denn der wurde ja bereits mit der 2. Version des Modells 1700 (eigentlich 2200) in Deutschland abgeschafft. (Dafür waren sicher deutsche Zulassungsbestimmungen verantwortlich, denn ein Scheinwerfer, der mit der Auf- und Abbewegung des Motors, also auch abhängig von Reifendruck und -abnutzung, seine Einstellung verändert, war in Deutschland wohl unvorstellbar. Jahre später, mit dem letzten Modell des 3800, hat das dann scheinbar niemand mehr bedacht. Diese Vermutung nur nebenbei - vielleicht weiß es ja jemand genau)
Genauer betrachtet war mit den Veränderungen 1973/74 wieder eine Kosteneinsparung bei der Produktion erreicht, die zu einem erheblichen Qualitätsverlust beim VeloSoleX bis zur Übernahme der Produktion durch Motobecane führte. Die klassischen Merkmale des VeloSoleX wurden einfach wegrationalisiert:

Wäre denn wirklich kein besserer Scheinwerfer an Stelle der ULO-Lampe vorstellbar? Vergleichsweise minderwertig war jedenfalls der Scheinwerfer der 5000er mit seinen schlecht verzinkten Montageteilen und dem klappernden Plastikkorpus.

Schlimmer noch: diese graue Funzel war dem Ausrückhebel im Wege, so dass dieses unverkennbare "Markenzeichen" des Velosolex weichen musste!
Statt dessen wurde das Ausrücksystem der 5000er montiert, das ich als den größten konstruktiven Pfusch, den es am VeloSoleX je gegeben hat, bezeichnen möchte. Dieses zu Klappern, Verschleiß und zum Verbiegen neigende Teil (für das selbst im Herkunftsland keine gescheite Bezeichnung gefunden wurde: "relevage par bielle-manivelle") hat nie richtig funktioniert. Auf den zeitgenössischen Werbefotos, die das jugendliche clientèle auf ihren 5000ern darstellen, ist der Motor immer in ausgerückter Stellung zu sehen. Während der Fahrt klapperte er entweder in der Aussparung seines Gegenstücks am Motor herum oder er hämmerte am Tank. Für seine eigentliche Aufgabe war der Hebel eindeutig zu schwach ausgelegt, was sich bald mit ausgeschlagenen Lagerungen und verbogenem "Exzenter" bemerkbar machte.

Evolution gleich Degeneration?

Da der alte Ausrückhebel nicht mehr montiert werden konnte, wurde auch die Bowdenzug-Lösung für die Dekompression vom 5000er übernommen. Damit war keinerlei Verbesserung im Vergleich zum Speichzug-System erreicht - bis auf die Tatsache vielleicht, dass man sich das Einstellen des Zuges an der Klemme dadurch ersparen konnte, dass man einfach das weiche Material des Gegenhalters am Ende des Bowdenzuges mit dem Finger zurechtbog.

Auch der hohe Lenker war viel schlechter verarbeitet, als der schön geschwungene an den Vorgängermodellen.
Abgesehen vom Chrom, an dem man seine Freude nur kurz hatte, scheint auch das Rohr-Material schlechter gewesen zu sein. An meinem ersten VeloSoleX hatte der Plastik-Scheinwerferkorpus eine Rille in den Lenker geklappert, so dass er bei einem Sturz tatsächlich dort abbrach!

Ein kleines Detail dokumentiert den qualitativen Rückschritt recht anschaulich, den das VeloSoleX bis Mitte der 1970er Jahre erlebte (besonders mit seiner deutschen Version mit hohem Lenker):
Eine einfache Fahrradklingel löste die große Zweiklang-Glocke des Vorgängermodells ab.
In Frankreich war der "cou cou"-Zweiklang bereits mit dem Modell 2200 einem eintönigen, kleineren Teil zum Opfer gefallen.

Seht euch dagegen das Luxusteil an meinem VeloSoleX 1010 an!
Beide Klangschalen (nicht nur die obere, wie an späteren Modellen) sind verchromt und die Glocke birgt in ihrem Inneren ein Ersatzbirnchen!


Zugegeben, der letzte Teil dieses Beitrags ist nicht ganz so sachlich ausgefallen, wie sonst. Manchmal wundere ich mich heute noch, wie meine Verbundenheit mit dem VeloSoleX bis heute unausgesetzt anhalten konnte, obwohl ich mit meinem ersten nur schlechte Erfahrungen (im technischen Sinne!) gemacht habe.
Darum beende ich hier und jetzt meine Ketzerei, mit der ich bestimmt niemandem, der ein VeloSoleX aus den 70ern hat, den Spaß an seinem Fahrzeug nehmen wollte.

Edited by Michel – Okt 4 2003